Börsen: Höhenluft macht Kopfweh? Oder genießen Sie das Panorama?

„Sell in may and go away!“. So lautet eine alte Börsenweisheit. Seit meiner letzten Börsennews vom Oktober ist der Weltindex MSCI World in Euro wieder über 20% gestiegen (nach zuvor über 40% seit März 2020). Also nichts wie Gewinne mitnehmen?

Lassen Sie uns die Punkte nochmal anschauen, die ich im Oktober 2020 angeführt hatte, und die mich recht optimistisch für den weiteren Kursverlauf sein ließen. Fragen wir uns doch, was sich seither ggf. verändert hat.

  • „TINA“ (There Is No Alternative)– bei Zinsen um den Nullpunkt bleibt den Investoren kaum etwas Anderes übrig, als ihr Geld in Sachwerte anzulegen. Aktien bieten dabei die kostengünstigste und einfachste Diversifikationsmöglichkeit
    => UPDATE HEUTE: Das stimmt weiterhin. Zwar zieht die Inflation hie und da an, insbesondere bei den Rohstoffpreisen. Bauholz ist enorm teuer geworden. Computerchips sind knapp. Die Zinsen sind aber weiterhin nahe Null. Die US-Renditen sind je nach aktuellen Konjunkturdaten vorübergehend immer wieder angezogen und haben den Aktienmarkt nervös gemacht, denn höhere Renten-Renditen locken Anleger von Aktien in Rentenpapiere. Aber die Aktienkurse haben sich bisher stets schnell erholt.
  • Die Zentralbanken sind auf absehbare Zeit „verdammt“, weiter Geld zu drucken. Die überschuldeten Staatshaushalte und Niedrigzinsen locken weniger Investoren an als in normalen Zeiten. Riskante Länder (siehe auch Euro-Zone) finden kaum mehr „freiwillige Anleger“. Daher kaufen einfach die Zentralbanken die Staatspapiere auf. Ähnliches passiert inzwischen auch mit Unternehmensanleihen. Billiges Fremdkapital für alle! So können sich Staaten und Unternehmen billig refinanzieren. Bei den Unternehmen steigen die Gewinne und Investitionen werden erleichtert. Die steigenden Gewinnerwartungen treiben die Kurse.
    => UPDATE HEUTE: Die Märkte lassen sich zwar von der einen oder anderen Zentralbanksitzung nervös machen, im Prinzip fahren die Zentralbanken die ultra-lockere Geldpolitik aber unverändert weiter. Die US-FED und die EZB haben zudem seither ihre Regularien zum Inflationskriterium so verändert, dass selbst eine erhöhte Inflation keine zeitnahe Änderung der lockeren Geldpolitik erforderlich macht. Also im Prinzip: Weiter so!
  • Staatliche Konjunkturprogramme und „Überbrückungshilfen“. In den USA wird gerade das nächste Paket mit einem Volumen von bis zu 3.000 Milliarden US-Dollar diskutiert. Ich denke, es ist egal, welcher Präsident gewählt wird. Das Paket kommt so oder so. Die Zentralbank druckt willig das billige Geld, das der Staat dann verteilen kann
    => UPDATE HEUTE: Das Paket wird wohl nicht so groß wie erwartet, da die Konjunktur auch so läuft. Aber ich gehe davon aus, dass es zumindest rund ein Drittel wird. Das wären auch noch um die 1.000 Milliarden US-Dollar. Infrastrukturprogramme stehen hier ganz oben auf der Agenda und die sind auch dringend nötig in den USA. Davon profitiert die Wirtschaft doppelt: Von den Investitionen direkt (Baufirmen, IT-Ausrüster…), aber auch von den verbesserten Rahmenbedingungen durch erleichterte Logistik in den Folgejahren.
  • Die „Weltkonjunkturdaten“ sind inzwischen wieder recht ermutigend
    => UPDATE HEUTE: Laut IWF wird für 2021 mit einem Wirtschaftswachstum zwischen 4% (Europa) und über 8% (China) gerechnet. Die Produktion läuft allenthalben wieder an. Einzelne Engpässe sind sogar da, z.B. bei Computerchips, da die Nachfrage unterschätzt wurde (z.B. aus der Autoindustrie).
  • Ein erneuter Lockdown ist unwahrscheinlich, da kaum durchsetzbar. Wenn dann nur lokal und zeitlich sehr begrenzt (wie aktuell in Berchtesgaden)
    => UPDATE HEUTE: Da lag ich komplett falsch. Erst ein „Eiertanz“-Lockdown, dann sogar ein härterer Lockdown. Wir waren aber alle besser vorbereitet und hatten genug Klopapier griffbereit. Die Wirtschaft insgesamt ließ sich nicht mehr in Panik versetzen. Es entstand so etwas wie eine neue Normalität im Lockdown. Business as usual vom Homeoffice aus.
  • Wir lernen mit dem Virus zu leben. Impfstoffe könnten auch bald verfügbar sein.
    => UPDATE HEUTE: Hier ist viel passiert. Zahlreiche Impfstoffe. Selbst im anfangs hinkenden Deutschland sind inzwischen über 40% der Menschen mindestens einmal geimpft. In den USA noch viel mehr. In Asien ist in vielen Ländern Corona längst Geschichte.

Das klingt doch alles recht erbaulich. Also: Einfach weiter so?

Als Langfriststrategie rate ich sowieso nicht zum Markttiming. Buy and hold und das breit diversifiziert ist meine Devise.

Dennoch ist es gut zu wissen, welche Schlaglöcher uns in den nächsten Monaten und darüber hinaus erwarten könnten, denn dann ängstigen sie uns nicht so sehr und wir können gelassen bleiben. Hier eine kleine Auswahl:

  • Kurzfristig: Die Börsen könnten einen Großteil der Re-Opening-Party in den Kursen vorweggenommen haben. Es drohen sicherlich immer wieder Rückschläge bei einzelnen Enttäuschungen (also z.B. Unternehmensgewinne unter den Erwartungen)
  • Kurzfristig: Krisenherd Nah-Ost. Beten wir dafür, dass sich die Großmächte da nicht zu sehr einmischen und dass auch die alten Fronten in den Köpfen vor Ort sich langsam auflösen. In der Börsenpsychologie spielt dieses „Störfeuer“ zumindest aktuell keine wesentliche Rolle
  • Mittelfristig: Kryptowährungen wie Bitcoin. Wer weiß, welche Auswirkungen diese im Moment noch recht spekulativen Felder auf den breiten Aktien- und Rentenmarkt haben werden
  • Langfristig: Allgemeine Destabilisierungsfaktoren wie Arbeitslosigkeit durch Automatisierung, Überschuldung der Staatshaushalte und politische (Radikalisierungs-)Risiken. Dazu hatte im im letzten Oktober auch ausführlicher geschrieben. Den Beitrag sende ich auf Wunsch gerne zu.

Einer der besten Tipps, die ich geben kann, ist, nicht zu viel Nachrichten zu schauen. Zu viel negatives, kurzfristiges Getöse, zu wenig ausgewogenes „Big picture“. Börsen-Legenden wie Kostolany haben nicht ohne Grund dazu geraten, Aktien zu kaufen, sich 20 Jahre schlafen zu legen und sich dann zu freuen. Wer zu viel Nachrichten schaut, verliert nur unterwegs die Nerven und steigt womöglich am Tiefpunkt aus.